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Delhi-Tagebuch – Ein Text von Boris Guschlbauer
Dezember 27, 2008, 9:40 pm
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Teil zwei der Prosa-Reihe. Unser Autor Boris Guschlbauer berichtet aus Indien. Vishnu, Glyzerin, Erfahrungen vom Subkontinent.

Das Delhi Tagebuch

von Boris Guschlbauer

 

Mein letzter Kaffee in Deutschland. Frierend trank ich ihn frühmorgens am Tegeler Flughafen mit Blick auf die reine Wintersonne, die hinter den startenden Flugzeugen aufging. Keine Stunde später drückte es mich selbst in einen der Sitze einer abgewracktenAntonov AN-24 und ich reiste der Sonne entgegen, um dem tristen Winter in Deutschland zu entkommen. Zehn Stunden Flug mit kurzem Zwischenstopp in Zürich, um von der Flughafenlobby aus noch einmal die mit Puderzucker bestreuten Alpen zu sehen, und weiter gings. Mein Nebensitzer, ein älterer Herr aus Warschau, zwirbelte sich unentwegt aufgeregt seinen dunklen Schnurrbart auf drei Meter Länge, schüttete sich zur Beruhigung einen Cognac nach dem anderen hinter die Binde, dann fragte er mich in einem gebrochenen Deutsch: „Du auch erstes Mal nach Indien?“ Ich nickte. Die Suche nach dem grünsten Gras (und potentesten) trieb mich zum ersten Mal in Nachbars Garten Indien. Jaroslaw, so wie er sich mir vorstellte, war jedoch beruflich nach Delhi unterwegs. Die polnische Firma in der er arbeitete, hatte eine wundersame Maschine erfunden, die die Vergangenheit aus den Köpfen der Menschen löschen konnte, und die nun in Indien massenproduziert werden sollte, weil hier die Löhne noch niedriger lagen als in Polen. Drei Tage später sollte er dann in die heilige Stadt Varanasi gefahren werden, dort durfte er sterben und seine Asche würde dem Ganges übergeben werden. Man hatte ihm erzählt, dass man dadurch den Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt durchbrach und sofort ins Nirwana gelangte. Da war es wirklich kein Wunder, dass Jaroslaw nur so vor Nervosität strotzte. Und um mich davon nicht anstecken zu lassen, tranken wir nun den Alkohol um die Wette. Jaroslaw gewann, die verbitterte Oberschwester Stewardess weigerte sich, mich mit Nachschub zu versorgen. Die Nacht wickelte den Flieger in ein pechschwarzes Tuch. Das dunkle Unbekannte näherte sich mit rasender Geschwindigkeit und irgendwann tanzten orangefarbene Irrlichter zu meiner Linken knapp unterhalb der Tragfläche. Endlich befanden wir uns im Landeanflug auf Delhi. Das Fahrwerk der alten Antonov klemmte und ein Schaumteppich wurde ausgelegt. Funken sprühten wie bei einem Feuerwerk, es krachte, rumpelte und ruckelte. Bei dieser Bruchlandung starb der gute Jaroslaw, weil er vor lauter Aufregung vergessen hatte sich anzuschnallen. Wie ein Crashtestdummie wurde er bis ins Cockpit geschleudert und zerschlug mit seiner Stirn die Frontscheibe. Blut spritzte den Piloten aufs Gesicht und die Uniform. Jaroslaw war nun schneller im Reich der Toten als ihm lieb war. Ob er wiedergeboren wurde, war nun eine Frage seines Karmas, die ich hier nicht beantworten kann. Mein grüner Ausweis mit dem goldenen Adler drauf machte keine Schwierigkeiten. Konrad Kujau, dessen Tod nur eine Finte war, hatte ganze Arbeit geleistet – der bärtige Zöllner mit weißem Turban erkannte nicht die Fälschung des Visums, das in der Indischen Botschaft normal 50 Euro kostet. Kujau machte es für 10 Euro Freundschaftspreis, die Hitlertagebücher waren allerdings nur zu einem Aufpreis zu bekommen. Die vielen Menschen am Ausgang bildeten ein langes Spalier und riefen alle Männer- und Frauennamen der Welt auf. Der rote Teppich wurde mir nicht ausgerollt, noch eine Stretchlimousine vorgefahren. Ich musste mich mit einem zerbeulten Taxi begnügen, überall hingen vergilbte Bommeln von der Decke, die Seitenscheibe war zersplittert, mein Fahrer funkelte mir mit dunklen Augen im Rückspiegel entgegen, sein Blick erinnerte mich an Charles Manson. Es war weit nach Mitternacht, der Psychopath Manson und ich düsten durch eine gespenstische, menschenleere Stadt, nur hier und da ein Obdachloser, der mit dem Gesicht zum Straßenrand schlief, ein Schlafwandler oder ein von einem Albtraum geplagtes Kind. Ich checkte für zwei Nächte ins Billighotel „Burbank“ in Paharganj, dem düsteren Bahnhofsviertel ein, ließ mir noch ein Kingfisher aufs Zimmer bringen, verstreute meine Sachen im ganzen Raum und zwang mich dann in den Schlaf, damit ich dem Jetlag eine ordentliche rechte Gerade ans Kinn zementieren konnte. Ein Kampf über die volle Distanz, wobei ich schlussendlich doch in der 12. Runde K.O. ging. Jetlag Ali behielt eine blütenreine KampfstatistikTrotz viereinhalb Stunden Zeitunterschied erwachte ich früh. Die ungewohnte Hitze nach den Monaten deutschen Winterfrustes, das wilde Gehupe, der Menschenlärm auf der Straße unterhalb des kleinen Hotelfensters und meine innere Unruhe drängten mich nach draußen. Schon beim ersten Schritt in dieser neuen Welt bei Tageslicht zermalmte mir das Leben in Delhi den Verstand, als hätte ich einen Mühlstein gefrühstückt. Diese Stadt war eine lebende Materie. Häuser, Straßen, Menschen, Tiere, Maschinen, alles schien sich zu bewegen. Alles lief, fuhr, kroch und kreuchte dahin. Delhi war wie ein halb zertretener Regenwurm, der sich im plötzlichen Sonnenschein im Todeskampf windet. Die lauten Hupen der Motorrikschas, Autos, Mopeds und Motorräder, die sich durch jede noch so kleinste Lücke drückten, waren wie die Trompeten von Jericho, die das Lied vom Tod bliesen und die letzten noch standhaften Mauern Delhis zum Einstürzen bringen wollten. Aber die Trompeten versagten. Alles wackelte zwar bedrohlich am Abgrund hin und her, aber wie durch eine magische und kosmische Kraft schien dieses fragile Kartenhaus – das nur aus Karo 2-ern bestand – nicht in sich zusammenzufallen. Delhi blieb standhaft und das Leben sabberte in einer Geschwindigkeit von 3 bis 30 Stundenkilometer weiter, blieb kurz stehen, die Uhren standen still, nur ein kurzer Augenblick der Stille, dann kam die nächste Frage einer der unzähligen Verkäufer, die mich in ein Gespräch verwickeln und so in ihren Ramschladen locken wollten. „Where are you from?“ tönte es von allen Ecken und Enden. Darauf die immer gleiche Antwort: „Ich weiß es nicht! Habe es noch nie gewusst. Von Delhi jedenfalls nicht!“ Scheuklappen, Delhi war ein Königreich für Scheuklappen. Überall lag tonnenweise Müll herum, die schwäbische Kehrwoche hätte sich daran alle Zähne ausgebissen. Der Abfall türmte sich zu Bergen bis in den Himmel. Viele Abenteuerlustige stürzten bei dessen Erstbesteigung in den gähnenden Abgrund; Bettler, Straßenkinder, Hunde und heilige Kühe suchten darin nach Essbarem, ich suchte darin nach Antworten, fand mich aber nicht zurecht. Alles stank zu sehr nach Verwesung, Leid, Tod und Qualen. Die Autoabgase stanken auch, die schwarzen Schwaden stiegen in Form von Totenköpfen in die dunklen Smogwolken, die Totenköpfe lachten hämisch über die Menschheit, die sich selbst verpestete, ihr Lachen übertonte selbst die Hupen. Eines war klar wie Berliner Leitungswasser, Delhi machte mich fertig. Dieser menschliche Ameisenhaufen mit dieser unübersehbaren Armut sprengte wirklich die letzten Ketten, die den Verstand im Kopf hielten. Ich fühlte Schmerz, Ungläubigkeit und Einsamkeit, obwohl es von überallher dröhnte: „My friend… My friend!“ Jeder wollte mir etwas verkaufen. Jeder musste seinen Schneid machen, es ging ums Überleben in diesem dunklen Loch. Ihre Welt bestand nur aus Rupees, aber man konnte es ihnen nicht verübeln. Geld hieß Macht gegenüber dem Tod. „My friend… My friend, you wanna smoke? I have good stuff!“ Das erste Lächeln huschte mir über das Gesicht, denn ich erinnerte mich William S. Burroughs Worte: „Du bist hip, wenn dir jemand in einer fremden Stadt Drogen verkaufen will!“ Und Drogen waren für den fliehenden Verstand nicht die schlechteste Wahl. Ich musste mich betäuben, dem Hirn ein Alcatraz bauen – am besten geeignet war dafür der Alkohol, er war der härteste Zement. Er tötete alle schlechten Gedanken wie Malarone die Malaria. Schleunigst suchte ich eine Bar auf, um mir diesen undurchdringbaren Schutzschirm zuzulegen, an dem alles abprallte wie ein hart aufgepumpter Fußball an einer Häuserwand. Hätte ich gewusst, dass indisches Bier oft Glycerin als Konservierungsstoff enthält, ich wäre in dieser schummrigen Bar mit diesen zwielichtigen Besuchern wirklich zurückhaltender gewesen. Doch in diesem labilen Zustand und den Schutzschirm mittlerweile auf 50 Prozent aufgeladen, konnte mich nichts mehr halten. Das Bier floss wie Wasser den Ganges hinunter. Nach dem siebten Bier schaltete sich dann doch der Verstand ein: „Lieber Boris, ich weiß, es ist schon spät und du bist in absoluter Bierlaune, aber du befindest dich in einer 13 Millionen Metropole irgendwo am anderen Ende der Welt und dein Orientierungssinn hat dich schon bei Tomb Raider I verlassen. Also trinke noch ein Bier auf Ex und ab zurück ins Hotel!“ Ich tat wie mir befohlen und stolperte nach draußen in die schwüle Delhinacht und über die vielen Obdachlosen, die überall verstreut herum lagen, mühte mich durch Müll und Kot, prallte von irgendwelchen dubiosen Menschen ab, verirrte mich, wünschte Lara Croft eine schöne Nacht und fand dann durch Zufall zurück zum Hotel. Auf mein Unterbewusstsein war Verlass. Ich nahm mir noch ein Kingfisher mit aufs Zimmer und fiel in einen Schlaf, der der Bewusstlosigkeit ähnelte. Genau DAS hatte ich gebraucht. Das Glycerin hatte sich über Nacht mit Nitro verbündet und sprengte mir beim Erwachen die Birne. Genau DAS hatte ich NICHT gebraucht. Was für ein höllischer Kater. Der Schutzschirm driftete augenblicklich in den absoluten Minusbereich, meine Hände zitterten als hätte ich Parkinson, kalter Schweiß lief mir literweise von der Stirn und mein Herz schlug wie eine Pauke in der Brust. Die absolute stickige Hitze, der schwere Rucksack, die vielen Millionen Menschen, der dunkle Smog, das Dröhnen der Hupen, der Dreck, der auf die Stirn drückende Tropenhelm, dies alles war meinem Wohlbefinden in diesem Zustand der trüben Sieche nicht gerade zuträglich. Ich musste weg aus Delhi, die Flucht ergreifen, so viele Kilometer wie irgendwie möglich zwischen diese Stadt und mich bringen. Die New Delhi Trainstation war nicht weit und so kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Haridwar, dort hoffte ich tiefe Entspannung zu finden. Zum absoluten Glück war ich zu früh am Gleis 13 und ergatterte einen der letzten Sitzplätze. Die anderen Passagiere hatten es wesentlich schlechter erwischt und drängten sich wie Teig in einer Spätzlespresse durch die Wagontüre in das überfüllte Innere. Es wurde so voll, dass man getrost annehmen konnte, der Zug würde in der nächsten Sekunde wie ein Luftballon platzen, den man zu stark aufblies. So, oder noch schlimmer, mussten sich Hühner in Legebatterien fühlen. Aber noch war nicht Schluss im Mastdarm-Express. Ein Junge kletterte von außen durch eines der wenigen nicht vergitterten Fenster – man durfte schließlich bei einer Panik nicht entkommen – die Füsse fanden jedoch keinen Platz, er ließ sie einfach nach draußen baumeln. Er kam damit nicht weit, der nächste Strompfeiler riss sie ihm vom Unterleib. Sechs Stunden später erreichten die Blinden Passagiere auf dem Zugdach und ich Haridwar.

Haridwar ist eine heilige Stadt, beim Har-Ki-Pairi-Ghat, den Stufen zum Ganges hinunter, soll Vishnu, der Bewahrer und Erhalter, einen Tropfen Himmelsnektar und einen Fußabdruck hinterlassen haben. Ständig kommen Scharen von Pilgern hierher, um sich im schnell vorbei fließenden Ganges die Sünden abzuwaschen. Die Aussicht auf Entspannung bei dieser Menschenmasse zerschlug sich augenblicklich. Wie eine Kuh beim Almabtrieb wurde ich mit der Herde zum Ghat getrieben, es gab kein Entkommen. Bettler, Straßenkinder, Saddhus und Spendeneintreiber fielen wie Fliegen auf einen Tierkadaver über mich her. Ich versuchte, sie alle mit meiner unsichtbaren Fliegenklatsche abzuwimmeln und setzte mich auf die Stufen zum Fluss. Ich schaute den Menschen zu, wie sie ihre Sünden den Ganges hinunter spülten, dabei hielten sie sich an Ketten fest, um nicht von der Strömung mitgerissen zu werden und in all den großen und kleinen Sünden zu ertrinken. Bei dieser gigantischen Seelenwaschmaschine war es also nicht verwunderlich, dass, je weiter der Ganges seinen Lauf nahm, er einer der verpestetsten Flüsse der Welt wurde. Anhand von Wasserproben sollen in 100 ml Wasser 1,5 Millionen Sünden schwimmen. Zur christlichen Taufe ist das Wasser also nicht geeignet. Vielleicht waren deshalb auch 80,5 Prozent der Inder Hindus. Andere setzten kleine Schiffchen aus Binsengeflechten mit Blütenblättern als Passagiere und einer Kerze als Kapitän in die Strömung und ich blickte sentimental diesen immer kleiner werdenden Lichtern hinterher. Und ich weiß nicht, was es war. War es dieser zarte Windhauch auf meiner Wange, der Anblick der Großfamilie die ein Foto von sich machte, der große Zeh Vishnus oder die plötzliche Erkenntnis, dass der Ganges das Sinnbild des Lebens an sich war, der die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich barg, aus irgendeinem magischen Grund flogen auf einen Schlag alle Qualen von mir ab. Wie aus heiterem Himmel erschienen mir plötzlich alle Menschen wie aus Zucker und Honig. Jeder hatte seine süssen Träume und Sehnsüchte, ob hier am Ghat, in Delhi oder Berlin, ob in Ecuador oder der Ukraine, alles, das ganze Leben, die Gefühle, die Hoffungen und selbst der Tod waren überall gleich. Ich selbst stellte dabei keine Ausnahme dar. Irgendwie waren wir doch alle eins unter diesem Sternenhimmel. Ein warmer Schauer lief mir den Rücken hinunter, Gänsehaut entstand am ganzen Körper, mir schien, ich war schlagartig in Indien und anderswo angekommen. Von nun an, da war ich mir sicher, würde die Reise eine neue Richtung einschlagen.

 


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Das dazugehörige Buch von Boris Guschlbauer “Geradeaus im Kreis” ist Ende Oktober 2011 erschienen. Mehr Infos unter http://www.geradeausimkreis.de“

Kommentar von Jay




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